ABTEIL N° 6

Leseprobe auf Deutsch

Translator: Stefan Moster

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Moskau kauerte im trocken-kalten Märzabend, schützte sich vor der Berührung durch die eisige, rot sinkende Sonne. Die junge Frau stieg in den letzten Schlafwagen am Schluss des Zuges, suchte ihr Abteil, Abteil Numero sechs, und atmete tief durch. Das Abteil hatte vier Betten, die beiden oberen waren an die Wand geklappt, zwischen den unteren befand sich ein kleiner Tisch, auf dem ein weißes Tuch lag und eine Blumenvase aus Plastik stand, darin eine von der Zeit gebleichte rosa Papiernelke. Die Ablage am Kopfende der Betten steckte voller großer, dürftig verschnürter Kolli. Sie stopfte den bescheidenen, alten Koffer, den sie von Zachar bekommen hatte, unter das schmale, harte Bett, in die dort eingebaute Metallablage, den kleinen Rucksack warf sie auf das Bett. Als die Bahnhofsglocke zum ersten Mal schlug, stellte sich die junge Frau im Gang ans Fenster. Sie atmete den Geruch des Zuges ein, den Geruch, den Eisen, Braunkohlestaub, zig Städte und tausende Menschen hinterlassen hatten. Reisende und ihre Begleiter drängten an ihr vorbei, stießen sie mit ihren Taschen und Kolli an. Sie berührte mit der Hand das kalte Fenster und blickte auf den Bahnsteig. Dieser Zug würde sie durch Dörfer bringen, die von Verbannten bewohnt wurden, durch die offenen und gesperrten Städte Sibiriens bis in die mongolische Hauptstadt Ulan Bator.
Als die Bahnhofsglocke zum zweiten Mal schlug, sah sie einen kräftigen Mann mit Kohlblattohren, der die schwarze Steppjacke der Arbeiter und eine weiße Hermelinpelzmütze trug und eine dunkelhaarige schöne Frau sowie einen Jungen im Teenageralter, der dicht bei seiner Mutter blieb, dabei hatte. Die Frau und der Junge verabschiedeten den Mann und gingen untergehakt zum Bahnhofsgebäude zurück. Der Mann starrte zu Boden, kehrte dem kalten Wind den Rücken zu, kniff eine Belamorka zusammen, steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an, rauchte eine Weile, rauchte gierig, drückte die Zigarette an der Schuhsohle aus und blieb dann schlotternd auf der Stelle stehen. Als die Bahnhofsglocke zum dritten Mal schlug, sprang er in den Zug. Die junge Frau sah, wie er mit wiegenden Schritten den Gang entlang ging, und hoffte, er würde nicht ausgerechnet ihr Abteil betreten. Sie hoffte vergebens.
Nach kurzem Zögern begab sie sich ins Abteil und setzte sich dem Mann gegenüber auf ihr Bett. Er dünstete Kälte aus. Sie schwiegen. Der Mann starrte unwillig auf die junge Frau, die junge Frau unsicher auf die Papiernelke. Als der Zug mit einem Ruck anfuhr, brach in Gang und Abteil Schostakowitschs achtes Streichquartett aus den Plastiklautsprechern.
Und so bleibt es zurück, das winterliche Moskau, die stahlblaue Stadt, wie die Abendsonne sie wärmt. Zurück bleibt Moskau, mit seinen Lichtern und dem lautstarken Verkehr, dem Reigen der Kirchen, mit dem Jungen im Teenageralter und der schönen dunkelhaarigen Frau, deren eine Gesichtshälfte geschwollen ist. Zurück bleiben die spärlichen Neonreklamen vor dem pechschwarzen, mürrischen Himmel, die Rubinsterne auf den Türmen des Kreml, die einbalsamierten Leichen des guten Lenin und des bösen Stalin und Mitka; zurück bleiben der Rote Platz und das Lenin-Mausoleum, die Geländer aus eiserner Spitze an den Wendeltreppen des Kaufhauses Gum, das internationale Intourist-Hotel mit seinen Valuta-Bars, mit seinen düsteren an westlichem Make-up, Parfüm und Rasierapparaten interessierten Etagenwachen, die sich heimlich die Besenkammern des Hotels als Wohnfläche erobern. Zurück bleiben Moskau, Irina, das Puschkin-Denkmal, die Ringstraßen und Ringlinien, Stalins Prachtstraßen, der mehrspurige Nowy Arbat im westlichen Stil, die Jaroslaw-Hauptverkehrsstraße und die mit Holzschnitzereien verzierten Reihen der Datschas; müdes, vielfach umgearbeitetes, glitschiges Land. Vor dem Fenster rauscht ein hundert Meter langer Güterzug vorbei. Das ist noch Moskau: ein Haufen neunzehnstöckiger Plattenbauten inmitten einer Schlammgrube, wo auf eisigen Fenstern mattes, scheues Licht zittert, Baustellen, halb fertige Wohnblocks, klaffende Löcher in den Wänden. Bald bleiben auch sie als Silhouetten in der Ferne zurück. Das ist nicht mehr Moskau: ein Haus, zusammengebrochen unterm Schnee, wild schwankender, vereister Kiefernwald, von Schneewehen überzogene Ebene, unter den Verwehungen eingefrorener Dampf, Dunkelheit, ein einsames kleines Holzhaus inmitten weißer Weite, davor ein ungepflegter Apfelbaum, Mischwald in steifem Schnee, Bretterzäune von Landhäusern, ein verfallener Holzschuppen. Vorne dehnt sich das unbekannte, im Eis erstarrte Russland aus, der Zug rast dahin, am erschöpften Himmel zeichnen sich hell leuchtende Sterne ab, der Zug schießt in die Natur hinein, in die drückende Finsternis unter dem Schein des sternenlosen Wolkenhimmels. Alles ist in Bewegung: der Schnee, das Wasser, die Luft, die Bäume, die Wolken, der Wind, die Städte, die Dörfer, die Menschen und die Gedanken. Der Zug stampft durch das verschneite Land.
Die junge Frau hörte den schweren, ruhigen Atem des Mannes. Der Mann betrachtete seine Handflächen – sie waren groß und stark. Draußen huschten in Bodenhöhe Weichenlichter vorbei. Bisweilen verdeckten stehende Waggons die Sicht, dann wieder entfaltete sich vorm Fenster die nächtliche Finsternis Russlands, hier und da huschte ein blass erleuchtetes Haus vorüber. Der Mann blickte auf, musterte die junge Frau lang und bohrend und stellte dann erleichtert fest:
„Wir sind also zu zweit. Die glänzenden Gleise bringen uns in Gottes Kühlschrank.“
An der Abteiltür erschien eine gleichmäßig kräftig gebaute Waggonschaffnerin, die beiden Reisenden sauberes Bettzeug und ein Handtuch reichte.
„Dass mir keiner auf den Boden spuckt! Der Gang wird zweimal am Tag geputzt. Und jetzt, bitte, die Pässe her!“

Sobald sie die Dokumente erhalten hatte, entfernte sich die Schaffnerin mit spöttischem Lächeln. Der Mann nickte ihr hinterher.

„Die alte Arisa hat hier Vollmachten wie die Miliz. Das hält die Säufer und Huren in Zucht und Ordnung. Besser man regt sich über sie nicht unnötig auf. Arisa ist nämlich auch die Göttin der Zugheizung. Das sollte man nicht vergessen.“

Er nahm ein Messer mit schwarzem Griff aus der Tasche, entfernte die Sicherung und drückte auf den Knopf am Griff. Ein metallisches Geräusch erklang, die Messerklinge schnappte mit kräftigem Federsprung auf. Behutsam legte der Mann das Messer auf den Tisch und grub einen großen Brocken Rossiskaja-Käse aus seiner Tasche, dazu ein ganzes schwarzes Brot, eine Flasche Kefir und ein Glas Sauerrahm. Schließlich entnahm er der Seitentasche des Gepäckstücks eine triefende Tüte mit Gurken und fing an, sich mit der einen Hand schwarzes Brot, mit der anderen Gurken in den Mund zu stopfen. Nachdem er gegessen hatte, zog er einen Wollstrumpf aus der Provianttasche. Darin steckte eine Flasche, die mit warmem Tee gefüllt war. Der Mann sah die junge Frau lange an. In seinem Blick konnte man zunächst Abscheu erkennen, dann gefräßige Neugier und schließlich Billigung bis zu einem gewissen Grad.

„Ich bin Stahlin Eisenowitsch“, sagte er, „Metaller und Vielzweckarbeiter im Häuserbau aus Moskau, Wadim Nikolajewitsch Iwanow mit Namen. Für Sie einfach Wadim. Einen Schluck gefällig? Im Tee sind Vitamine, weshalb es von Vorteil wäre, ein oder zwei Tässchen zu trinken. Ich wollte schon denken, da haben sie mich Kerl aber schwer bestraft und mit einer aus Estland ins selbe Abteil gesteckt. Dabei besteht ja ein Unterschied zwischen der Finljandskaja respublika und der Sowjetskaja Estonskaja respublika. Die Esten sind krummschnäblige deutsche Nazis, aber die Finnen sind im Prinzip aus demselben Speck gemacht wie unsereins. Finlandija ist eine kleine Kartoffel weit weg und hoch im Norden. Von euch geht kein Verdruss aus. Alle nördlichen Völker der Welt sind von ein und demselben Schlag, der nordische Stolz verbindet sie. Das Fräulein ist übrigens die erste Finnin, die ich je gesehen habe. Aber gehört hab ich viel. Bei euch herrscht ja Prohibition.“

Der Mann goss der jungen Frau dunklen Tee ins Glas. Sie kostete ihn vorsichtig. Der Mann nahm den Tee in kleinen Schlucken zu sich, stand auf und machte sein Bett. Verschämt zog er die oberen Kleidungsstücke aus, die dicke schwarze Hose mit dem schmalen Ledergürtel, das aus grobem Stoff genähte leichte Sakko und das weiße Hemd, und legte sie sauber gefaltet am Fußende aufs Bett. Er zog einen hellblauen, gestreiften Pyjama an und schlüpfte zwischen die gestärkten Laken. Gleich darauf ragten vernachlässigte und von schlechten Schuhen ruinierte krumme Zehen und raue, rissige Fersen unter der Decke hervor.

„Gute Nacht“, sagte der Mann mit matter Miene, beinahe flüsternd, und schlief auf der Stelle ein.

Die junge Frau blieb lange wach. Im halb dunklen Abteil bewegten sich die Teegläser und ihre Schatten, ohne je anzuhalten. Sie hatte fort gewollt aus Moskau, denn sie brauchte Abstand zu ihrem Leben, aber nun sehnte sie sich bereits zurück. Sie dachte an Mitka, an Mitkas Mutter Irina, an Irinas Vater Zachar und an sich selbst, was aus ihnen allen wird. Sie dachte an ihrer aller provisorisches Zuhause, das jetzt leer stand. Nicht einmal die Katzen, Fräulein Schmutz und Kater Müll, waren dort. Die Lokomotive pfiff, die Schienen quietschten, das Geklapper des Zuges hämmerte metallisch, der Mann schnarchte mit tiefer Stimme die ganze Nacht. Das Geräusch erinnerte die junge Frau an ihren Vater, und sie fühlte sich sicher. In den frühen Morgenstunden endlich, als die Schatten zu schrumpfen begannen, sank sie in weißen, schaumigen Schlaf.

Als die junge Frau vorsichtig die Augen öffnete, sah sie als erstes den Mann zwischen den Betten Liegestütze machen. Auf den lackierten Kabinenwänden zuckte der grüne Schein der Sonne, der Mann wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Noch bevor die junge Frau sich aufgerichtet hatte, klopfte es an der Tür, und Arisa, in eine schwarze Uniformjacke gezwängt, stellte zwei dampfende Teegläser, trockene Waffeln und vier große kubanische Zuckerstücke auf den Tisch. Der Mann grub einige Kopeken aus seiner Geldbörse, die ein Relief von Valentina Tereschkowa mit Weltraumhelm zierte.

Nachdem Arisa gegangen war, zog er sein Messer unter der Matratze hervor, nahm ein Stück Zucker in die linke Hand, klopfte es mit der stumpfen Seite der schmalen Klinge in zwei Teile und reichte der jungen Frau ein dampfendes Teeglas und ein halbes Zuckerstück.

Er lächelte scheu und kummervoll, zog eine Wodkaflasche aus der Tasche, schraubte sie auf und füllte zwei blaue Schnapsgläser, die er ebenfalls den Tiefen seines Gepäckstücks entnahm.

„Weil wir die Freude einer langen gemeinsamen Reise haben, darf der Trinkspruch kurz ausfallen. Auf unser Zusammentreffen! Auf den einzigen wahren Staat der Welt, auf die Sowjetunion! Die Sowjetunion wird niemals sterben!“

Er kippte sich seine Portion in den Rachen und biss ein Stück von einer saftigen Zwiebel ab. Die junge Frau berührte mit dem Glas die Lippen, trank aber nicht.

Der Mann trocknete sich mit lümmelhaftem Lächeln die Lippen an einer Ecke des Tischtuchs. Die junge Frau kostete den Tee. Er hatte lange gezogen, war aromatisch und stark. Erst jetzt merkte der Mann, dass sie ihr Wodkaglas nicht geleert hatte.

„Es ist traurig, alleine zu trinken.“
Sie rührte das Glas nicht an. Er musterte sie mit enttäuschter Miene.
„Schwer zu verstehen. Aber sei’s drum. Ich zwinge niemanden, auch wenn ich Lust dazu hätte.“
Er vergaß sich im finsteren Betrachten der jungen Frau. Sein Blick gefiel ihr nicht, und darum nahm sie das kleine Handtuch und die Zahnbürste und ging zur Toilette, um sich zu waschen.
Die Schlange nahm den halben Gang ein. Die Reisenden trugen Morgenmäntel, Pyjamas, Trainingsanzüge, zwei Männer sogar lediglich die weißen Unterhosen der Armee.
Mehr als eine Stunde später erreichte die junge Frau ihr Ziel. Nun war sie an der Reihe, die feuchte, klebrige Türklinke zu ergreifen. Die Toilette befand sich in unsauberem Zustand und der Gestank war stechend. Auf dem Fußboden schwappte eine Mischung aus Pisse, Seife und Zeitungspapier, aus dem Hahn kam kein einziger Tropfen Wasser. Allerdings waren noch zwei exakt gewürfelte, von der Stange geschnittene beigebraune, nach Natrium riechende Stück Haushaltsseife vorhanden. Die Oberfläche des einen war mit rostbraunem Schleim überzogen. Mit einem Satz stieg die junge Frau auf die Kloschüssel, um sich nicht die in Leningrad gekauften Morgenpantoffeln nass zu machen, und führte eine Trockenreinigung von Zähnen und Gesicht durch. Das kleine Toilettenfenster stand einen Spaltbreit offen. Ein vergessener, menschenleerer Bahnhof fuhr vorbei.

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